"Jazz - was für ein schönes Gift"
 
Es ist halb elf an einem Samstagabend. Durch Pu-Js, die Clubdiskothek neben Shanghais Grand Hyatt Hotel, schwebt Gershwins bekanntester Klassiker. Der 26jährige Coco bewegt sich lasziv über der Bühne, sein pailettenbestücktes T-Shirt funkelt durch den Raum. Er und seine Band haben das Publikum fest im Griff.
Sechs Mal in der Woche tritt er mittlerweile im Pu-Js auf. Da bleibt keine Zeit mehr für den Cotton Club, ehemals Shanghais erste Live-Musik-Bar. 1995 begegnete Coco dort einem bekannten Künstler der Shanghaier Jazz-Szene, Matthew Harding. Der Song, den der Amerikaner spielte, ist wohl eines der populärsten Jazz-Stücke der 50er Jahre. Coco erinnert sich noch genau, wie er dabei Gänsehaut bekam.

"Das Lied hiess „Misty“. ich habe ihn anschliessend gefragt, wie die Musik heisst, die er spiele. Seine Antwort war: 'das ist Jazz'. Das war das erste Mal, dass ich den Begriff Jazz und die Musik zusammenbringen konnte."


Coco zum Interview in der "Face"-Bar

Coco, eigentlich Zhao Ke, stammt aus einer Künstlerfamilie, sein Vater ist Komponist, seine Mutter Schauspielerin. Der 26jährige beginnt seine musikalische Grundausbildung 1987 als neunjähriger am Klavier in seiner Heimatprovinz Hunan. 1993 wird er am Shanghaier Musikkonservatorium aufgenommen mit den Schwerpunktfächern Komposition und Oboe. Mit dem immer stärker werdenden Interesse an den verschiedenen Genres moderner Musik läßt seine Begeisterung für das Konservatorium jedoch nach. Er bricht die Ausbildung 1995 ab und verschreibt sich ganz der Jazzmusik.

Durch Auftritte beim Jazz Festival in Shanghai 1997 macht er das internationale Publikum auf sich aufmerksam. Er tourt durch Europa im folgenden Jahr und darf 1999 vor Bill Clinton in Shanghai auftreten. Auf seinen Auslandsreisen, gibt er selber zu, hat er erst erkannt er wie vielfältig Jazz tatsächlich sein kann.

"Als ich in England war, habe ich gemerkt, dass Jazz keine starre Angelegenheit ist, ich hatte bis dahin hauptsächlich Jazz der 60er und 70er gehört und da ich selber keine richtige Ausbildung habe, dachte ich das müsse alles sein. Als ich in England war, habe ich geweint, als ich die Saxophonspieler dort gehört habe."

Seine Zusammenarbeit mit renommierten Künstlern wie dem Phil Morrison-Trio hat ihm dabei geholfen, seinen Blick auf die musikalische Landschaft des Jazz stetig zu erweitern. Keith Williams, Pianist und Sänger des Phil Morrison Trio, erinnert sich lebhaft.
"We met Coco back in 99, when we got here, a lot of people actually said: "Have you heard about this guy Coco or heard him?" and we said: "No." I forgot how we first met him I think he came to the Ritz Bar at the Portman Ritz Carlton and sat in with some other friends. He´s got a very interesting style. He´s a Chinese man, a short, and slinder guy and he´s got a real light voice, but he really feels the music and he was actually known at that time even in 99 as the best Jazz singer in Shanghai, maybe China and he´s become a really good friend and works quite a bit in this city."

Mittlerweile hat der 26jährige in Shanghai einen Bekanntheitsgrad erreicht, der stark an den der Rentnerband aus dem Peace-Hotel erinnert. Dort ziehen die mittlerweile über 80jährigen Musiker, die teilweise schon in den 30er Jahren aufgetreten sind, Scharen von Touristen an. Für die Musik interessieren sich dort die wenigsten. Derart berühmt zu sein, will Coco allerdings nicht so so recht schmecken.

"In letzter Zeit taucht mein Name immer öfter in irgendwelchen Reiseführern auf, darüber bin ich überhaupt nicht erfreut. Zum Beispiel im 'Lonely Planet' ist zu lesen, wenn Du nach Shanghai kommst, must Du unbedingt in den Cotton Club oder ins Grand Hyatt, um Coco zu sehen. Das mag ich überhaupt nicht, dann unterscheidet mich im Grunde nichts mehr von der Rentnerband, das will ich nun gar nicht."

25 Jahre nach Reform und Öffnung hält Coco das musikalische Wissen der Chinesen weiterhin für begrenzt. Mit seiner Musik möchte er aber vor allem der jungen Generation, die jetzt an der Geige schwitzt, verdeutlichen, dass Musik sehr vielseitig sein kann.

"Heutzutage ist es wichtig den jungen Menschen die Idee zu vermitteln, dass Kunst vielfältig sein kann. Dass sie viele Formen haben kann, aus vielen Elementen besteht, nicht einheitlich ist, sondern pluralistisch. Hier hat Musik sicher einen guten Einfluss, einer neuen jungen Generation, die Ideale und Träume hat, noch schönere und reichere, farbigere Träume zu ermöglichen."

Er hat sich Jazz zur Lebensaufgabe gemacht und nennt es selbst "was für ein schönes Gift". Zur Zeit arbeitet Coco an einem Projekt, Lieder des Alten Shanghai der 20er und 30er in Jazz zu verwandeln. Er möchte alle Lieder zusammengenommen eine Geschichte erzählen lassen, daher finden sich in den Songs auch selbstgeschrieben Gedichte.

Damit wird er seinen Bekanntheitsgrad in dieser Stadt sicher noch steigern. Ob er nun will oder nicht.


 
 

© oliver l. radtke 2003, letzte änderung: 23/10/03