Gegen Krankheit und Langeweile
Nichts geht über die öffentlichen Parks in Shanghai

 
China ähnelt immer mehr dem Westen, vor allem in den Großstädten. Dazu zählen auch die Probleme, die die Veränderungen in der Bevölkerungspyramide mit sich bringen. China ist mittlerweile nach dem Standard der Vereinten Nationen eine „alternde Gesellschaft“. Dass mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über 60 sind, spricht für den wachsenden Wohlstand des Landes.
Besonders in Shanghai steigt die Zahl der alten Menschen rapide an. Bereits mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ist über 60. Früher wohnten drei Generation unter einem Dach.
Als Ergebnis der Ein-Kind-Politik bleiben jedoch immer mehr alte Menschen alleine zu Hause, sobald ihre Sprösslinge heiraten und wegziehen. So kommt den öffentlichen Parks in Shanghai eine wichtige Rolle zu. Hier ist man nicht allein, trifft Gleichgesinnte oder frönt seinen Hobbies, und stärkt ganz nebenbei die eigene Gesundheit.

Morgens um 7 Uhr geht es laut zu im Xiangyang-Park an der Shanghaier Huaihai-Road. Den 71jährigen Shao Zhenghao scheint der Trubel nicht zu stören. Langsam führt er seinen wassergetränkten Pinsel über die Betonkacheln. Der ehemalige Zimmermann übt Schriftzeichen aus den chinesischen Klassikern. Dazu benutzt er eine mit Wasser gefüllte Colaflasche auf der ein spitz geschnitter Schwamm steckt. Es ist eine vergängliche Kunst, die er betreibt. Die ersten Zeichen verblassen bereits in der warmen Morgensonne. Immer wieder bilden sich kleine Gruppen, die seine Zeichen loben. Der alte Shao gibt sich bescheiden.

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Oh, alle sagen, ich würde sehr schön schreiben, einige sogar, meine Zeichen seien die schönsten, aber ich weiß natürlich auch, wie gut manche Kalligraphielehrer sind, und deren Niveau habe ich noch lang nicht erreicht. Jeden Tag draußen zu sein, ist gut für den Körper und gut für meine Zeichenübungen. Wenn die Leute vorbeikommen und meine Zeichen loben, dann freue ich mich. Und wenn ich mich freue, geht´s mir gut, dann bin ich gesund, ist doch so oder? (Lacht)"

Die gute Laune des alten Shao rührt aber vor allem daher, dass der Rentner im Park seine Freunde treffen kann. Auch sie sind Liebhaber der Kalligraphie.
Während die chinesische Jugend pro Jahr ein Vermögen für Fitness-Studios ausgibt, gehen die Alten in ihre Parks. Peking hat die Bedeutung dieser Orte erkannt. Allein in diesem Jahr gab die Regierung mehr als 25 Millionen Euro für öffentliche Übungsgeräte und Jogging-Pfade aus. In Shanghai werden die knallbunten Trimm-Dich-Plätze von morgens bis abends in Beschlag genommen.


Die Restfamilie
Kein Wunder, denn in Shanghai leben relativ gesehen mehr alte Menschen als im übrigen China. Bereits ein Fünftel der Bevölkerung ist über 60. Wenn der Sohn oder die Tochter von zu Hause auszieht, bleiben die Eltern alleine zurück. Die Chinesen nennen das kongchao „leeres Nest“. Als Konsequenz der Ein-Kind-Politik werden sich die leeren Nester mehren.

Der Sohn der 67jährige Frau Hong ist bereits ausgezogen. Die ehemalige Ingenieurin kommt regelmäßig in den Xiangyang-Park, um Peking-Opern zu singen. Die alte Hong ist froh darum, wenigstens einen festen Termin am Tag zu haben.

" Kurz nachdem ich pensioniert wurde, habe ich zwei Jahre lang nichts gemacht, das habe ich überhaupt nicht ausgehalten. durch das Singen habe ich wieder neuen Mut gefasst. Opern singen ist eine Sache, die ein wenig den Körper trainiert und mich nach draußen bringt."

Während die Jugend auf dem Laufband schwitzt, werden die alte Hong und ihre Nachbarn auch morgen früh wieder in den Park gehen und dort singen. Nicht nur um sich fit zu halten, sondern vor allem, um nicht alleine zu sein.
 
 

© oliver l. radtke 2003, letzte änderung: 22/11/03