Am Küchentisch
17/03/03
Es ist Abend in Shanghai. Die Familie hat gegessen und ich finde Zeit
für ein Interview mit den Eltern. Bei dem immer die Kinder im Vordergrund
stehen.
Liangliang und seine ältere Schwester Jinjin, beide 16 Jahre alt,
gehen in die Sekundarstufe II (
gaozhongxue). Das Arbeitspensum
ist enorm und damit auch der Druck der Eltern. Liangliang steht um sechs
Uhr als Erster auf, um Viertel nach sieben muss er im Klassenzimmer
sein. Für das Mittagessen hat er eine Stunde Pause, die er an der
Schule verbringt. Nach vier Stunden Nachmittagsunterricht und regelmäßigen
Zusatzstunden an einer Privatschule kommt er um sieben Uhr abends nach
Hause.
Die schwere, prall gefüllte Schultasche wird im Gegensatz zu westlichen
Haushalten sorgfältig in sein Zimmer getragen. Dann isst er mit
der Familie zu Abend. Anschließend hat er Zeit für die Abendnachrichten
im Fernsehen. Bis die Mutter ihn mehrmals an den Berg von Hausaufgaben
erinnert, die er bis um zehn Uhr fertigstellen muss. Zum Abschluss des
Tages lässt er seine Ergebnisse vom Vater gegenzeichnen. Jinjins
Alltag ist dem ihres Bruders sehr ähnlich. Daher entstehen in ihrem
gemeinsam bewohnten Zimmer auch kaum Abstimmungsprobleme. Hobbies bleiben
bei diesem Tagesablauf auf der Strecke.
Die monatlichen Prüfungen, der Druck, sich entsprechend gut für
die Aufnahmeprüfungen der Universitäten zu qualifizieren,
machen aus ihnen recht schweigsame, introvertierte Zeitgenossen. Mehr
Zeit, größere Bewegungsfreiheit werden sie erst nach ihrem
Universitätsabschluss haben. Undenkbar erscheint es, ihn oder sie
mit Freunden und der ersten Flasche Bier um die Ecke ziehen zu sehen.
Ganz zu schweigen von außerschulischen Gefühlen. Und auch
abgesehen davon, dass die Eltern eine Beziehung nie erlauben würden,
bliebe einfach keine Zeit für derartigen Luxus. "Ich weiss,
bei euch im Westen ist das anders, aber ihr habt auch nicht so einen
Druck wie wir", ist Frau Ying überzeugt.
2001 waren 213.000 Schüler für die Aufnahmeprüfung in
die Sekundarstufe II gemeldet, (1998 noch 130.000). Man stelle sich
die Heidelberger Gesamtbevölkerung bei einer riesigen Klassenarbeit
vor, in die viel Geld der Eltern und viel Zeit investiert worden ist.
„Als ich geboren wurde, gab es nichts zu essen, als ich lernen
wollte, musste ich arbeiten (auf dem Land), als ich arbeiten wollte,
musste ich lernen (nach der Kulturrevolution) und als ich heiraten wollte,
musste ich arbeiten und lernen. Ist überhaupt eine gute Frage,
wie ich gleich zwei Kinder bekommen konnte“, lacht Ying Yichen.
Ihre Kinder sollen es nicht nur besser haben, sie sollen von Anfang
lernen, worauf es in diesem Land ankommt: Möglichst früh aus
der Masse der Mitschüler und späteren Arbeitsplatzkonkurrenten
hervorzustechen.
Wu Youming, ihr Mann, einfaches KP-Mitglied, stammt aus einer Familie
mit alten Kader-Tradition, sein Vater und sein Onkel sind altgediente
Mitglieder. Für ihn ist klar, dass sein Sohn Anwalt oder Arzt werden
soll. So wie ich Liangliang kennen gelernt habe, wird er seinem Vater
kaum widersprechen wollen. "Wenn ich zehn Leute fragen würde,
würden mir
höchstwahrscheinlich
zehn Leute sagen, dass es heute viel besser sei als früher",
meint er. Wirtschaftlich gesehen geht es tatsächlich den meisten
spürbar besser als vor 20 Jahren.
Ob es ihnen aber nicht auch gefallen würde, mehr politisches Mitsprachrecht
neben der wirtschaftlichen Verbesserung haben zu können? „Die
machen doch eh was sie wollen, und wir haben keine Möglichkeit,
uns dagegen zu stellen“, sagt Ying Yichen und zuckt mit den Achseln.
Am wichtigsten sei doch, dass es allen besser gehe und die Freiheit,
sagen zu können, was man wolle, mitterweile viel größer
geworden sei. Sie regt sich über die
waidiren auf, die
ehemaligen Bauern, die sich als Wanderarbeiter in Shanghai verdingen.
„Sie steigen mit ihren dreckigen Säcken in den Bus und machen
alles schmutzig“, zürnt sie, während Liangliang im dunklen
Wohnzimmer mittlerweile die Abendnachrichten schaut.
Welche Auswüchse das Geschäft mit Fremdsprachen noch haben
kann und warum dabei schon wieder Fernsehkameras eine Rolle spielen,
steht in Eintrag Nr. 7: "English for
carpet rats" - Die neue TV-Show mit olr.
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