"Chulian"
27/03/03
Um den beiden männlichen Lehrkräften aus Deutschland den Aufenthalt
angenehmer zu gestalten oder weil auf der chinesischen Seite tatsächlich
dringend Bedarf besteht, hat unsere grosse Familie eine gute Freundin
der Hausherrin eingeladen und – das ist wichtig – ihre Tochter
mit dazu.
23 Jahre alt, Leiterin der Bedienstetenschar im Shanghai Hotel, quasi
Kommunikationsknotenpunkt zwischen einfachem Kellner und dem Personalmanager,
macht Sun Aiping einen sehr netten Eindruck. Ihre Mutter lacht viel
und scheint sehr umgänglich, wäre in alten Shanghaier Bordelltagen
aber sicher auch als gestrenge Matronin durchgegangen. Ich kann mir
gut vorstellen, wie sie ihrer Tochter mit penentranten Zukunftsplänen
ganz schön nachhaltig in den Ohren liegen kann. Immerhin wird sie
ihre Familie verlassen müssen, da muss die Mama ein gehöriges
Stück mitreden.
So befinden wir uns am heutigen Abend in folgender Situation: ohne mein
Zutun werde ich 24 Stunden nach gestriger Tafelrunde von meiner chinesischen
Tante gefragt, wie mir die Tochter ihrer Freundin gefallen habe. Ich
könne ja die Telefonnummer von ihr haben. Nun ist Vorsicht angebracht.
In dieser Situation können einzelne Schritte schon in entscheidende
Richtungen führen. Enstprechend der Auskünfte chinesischer
Freunde ist ein erster Anruf zu Hause für die Mutter ein eindeutiges
Startzeichen Richtung Partnerschaft.
Bei Aiping kann ich mir derartig traditionelles Denken nicht vorstellen.
Ihre Eltern spielen jedoch eine wichtige Rolle. Es wird schwierig werden,
eine sympathische Chinesin unverbindlich kennenzulernen.
Was in westlichen Breitengraden von einer ersten Tasse Kaffee zu zweit
in alle Richtungen führen kann, ist zumindest in traditionellen
chinesischen Elternhäusern (sehr viel) eindeutiger vorprogrammiert.
Mein Interesse an ihrer Tochter signalisiere ich durch einen Telefonanruf
in einer für sie keineswegs zweideutigen Weise, es handele sich
– so die aus ihrer Sicht einzig mögliche Interpretation –
um ein ernsthaftes Interesse an ihrer Tochter als zukünftige Partnerin.
Dass auch im Jahre 2003 in der Kapitalistenhauptstadt Nummer eins derartig
traditionell zielstrebig gedacht wird, überrascht mich in der Tat.
Es erklärt sich aber aus der streng kalkulierten Lebensplanung,
die dem Sohn, der Tochter seit Einführung der Ein-Kind-Politik
auferlegt wird. Zuerst wird zur Schule gegangen, anschließend
konzentriert studiert. Dann folgt die angestrengte Partnersuche. Der
Zeitraum für eigene Entscheidungen, individuelle Freiheit und private
Ungezwungenheit beschränkt sich im Grunde genommen auf eine kurze
Phase zwischen Universitätsabschluss und der beruflichen Anfangsphase.
In Durchschnittswerten ausgedrückt, soll bis 25 fertig studiert
und bis circa 28 der Partner fürs Leben gefunden werden. Meistens
handelt es sich dabei um die erste offen zur Schau getragene Liebesbeziehung
im Leben vieler Chinesen.
Das Konzept der „chulian“ (ersten Liebe), die einen hauptsächlich
in der Oberschule erobert, geht vielmehr von einer heimlichen, meist
uneingestandenen Form des stillen Verliebtseins aus, von dem der oder
die Angebetete oft jahrelang nichts erfährt. Dieses leise Schmachten
wird durchaus als Tugend angesehen. Vergegenwärtige man sich die
Situation an einer normalen Mittel- und Oberschule: die Trennung von
Jungen und Mädchen beim Sexualkundeunterricht, im Pausenhof und
beim Sport ist strikt. Und macht es geradezu unmöglich, ungezwungenen
Umgang mit dem anderen Geschlecht zu erlernen. Daraus wird notwendigerweise
die Verehrung aus der Ferne.
Kein Wunder, dass ein Großteil der chinesischen Unterhaltungsmusik
sich um dieses Thema dreht, meist vorgetragen von kleinen piepsigen
Pagenkopf-Popsternchen, die ihre Verse melancholisch an verregnete Fensterscheiben
hauchen. Was in Deutschland mittlerweile seit den letzten erfolgreichen
Castingformaten gang und gäbe ist, dass Hinz und Kunz mit Lipp-Gloss
und (ganz wichtig!) „einer Mission“ Halbjahresruhm erlangen
kann, ist in China perfektioniert. Was sicher auch daran liegt, wie
mir eine junge Bankmanagerin gestand, dass die Musik mitunter nicht
so wichtig sei. Entscheidend sei die Möglichkeit, sich besonders
schöne Menschen, in ihrem Fall Männer, an die Wand zu hängen.
So komme ein wenig außerordentliche Ästhetik in ihr Alltagsleben.
Außerordentlich in der Tat, sehen doch eine Menge dieser Pophelden
aus wie Fleisch gewordene Lego-Weltraumfiguren mit futuristischem Billigoutfit
made in Taiwan. Wilde Posen, harte Blicke, die bei den meisten 50 Kilo-Chinesen
nicht so ganz überzeugen. Erstaunlich.
So nimmt es für mich auch nicht wunder, dass ich einen äußerst
geringen Bruchteil der chinesischen Top 100 wirklich hörenswert
finde. Es sind dies zum einen alte Musiklegenden wie Cui Jian oder Tang
Chao, die ihr Handwerk noch gelernt haben. Im Vergleich mit der aktuellen
Chartgeneration wirken sie ungefähr so alt wie die Stones oder
Rod Stewart. Dafür haben sie einen unverwechselbaren Stil und hinterlassen
musikalisch einige Spuren.
Oder es sind Popmusiker, die einen westlichen Unplugged-Stil und den
Touch skuriller Alternativität kopieren. Das gelingt einigen tatsächlich
gut und bereitet dem Zuhörer Spaß.
Es bleibt abzuwarten, ob ich Sun Aipings Musikgeschmack noch herausbekomme,
bevor das Aufgebot bestellt und die Kirche voll ist. Die Besorgung ihrer
Handynummer wird in sehr verschwiegene Hände gegeben werden müssen.
Warum
China in den Augen meines alten Lehrers Xu Lie manchmal "einfach
verrückt" ist und wieso er auf einmal zwei Millionen Yuan
zur Verfügung hat, steht in Eintrag
Nr. 9: Freundschaftsdienst.
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