Freundschaftsdienst
01/04/03
An diesem Nachmittag bin ich mit meinem alten Chinesisch-Lehrer Xu Lie
verabredet. Weil er ein wenig schrullig ist, mag ich ihn sehr. Und er
freut sich mich zu sehen, weil er wieder mit einem Heidelberger Deutsch
sprechen kann. Einem Studenten aus jener Stadt, die ihm bei seinen Auslandsaufenthalten
sehr ans Herz gewachsen ist. Die nächsten Stunden werden spannend.
Zunächst trinken wir einen Kaffee in der Nähe unserer Universität,
der Fremdsprachenhochschule im Hongkou-Viertel. Die Kneipe gehört
einer großen Brauerei aus Shandong, was sie nicht daran hindert,
statt der georderten Capuccini braunes Spülwasser zu bringen. Mit
einem Schuss Zimt obenauf. Herr Xu sieht in mir zwar einen Ehrengast
aus Deutschland. Ich bin nun aber so vertraut mit ihm, dass er aufgrunddessen
dem Personal keine Standpauke halten müsste. Er tut es, weil er
dabei seit langem wieder eine Menge deutsche Schimpfwörter gebrauchen
kann. Die Bedienstete wird dreisprachig beschimpft: auf Deutsch, auf
Chinesisch und im Shanghai-Dialekt. Ich grinse und versuche ihn zu beschwichtigen.
Die Angestellten ertragen seine Aktion gelassen, wahrscheinlich auch,
weil die meisten Beleidigungen aus Deutschland stammen.
Wir spazieren durch die Straßen des Hongkou-Viertels und sprechen
über die Stadtentwicklung. Zehn Prozent aller Autos auf Shanghais
Straßen seien Privatwagen, meint Herr Xu. Im Jahre 2002 wurden
in China erstmals mehr als eine Million Autos verkauft, für 2007
rechnet man alleine in Shanghai mit einer Fertigung von einer Million
PKWs. Die Wachstumszahlen sind enorm, 40 Prozent Produktionssteigerung
im Jahr 2002 gegenüber den vorangegangen zwölf Monaten.
Herr Xu verdient gut. Seine Frau ist Lehrerin, zusammen verfügen
sie im Monat über rund 10.000 Yuan, umgerechnet etwa 1100 Euro.
So ist ein Auto wie der VW Polo für 130.000 Yuan (rund 14.000 Euro)
ein finanzierbares Ziel geworden. Obwohl ein Führerschein mit etwa
500 Euro im Verhältnis immer noch sehr teuer ist.
Vor dem Autokauf steht aber für ihn, wie für viele Südchinesen,
die eigene Wohnung. In der Nähe vom Zhongshan-Park im Westen der
Stadt hat das Ehepaar 470.000 Yuan in eine Drei-Zimmer-Wohnung investiert.
Das Immobiliengeschäft boomt. Shanghais neuer Bürgermeister,
Han Zheng, sprach kurz nach seiner Amtseinführung am 20. Februar
dieses Jahres von Eigenheimen für jedermann. Die Regierung werde
vor allem die so genannten 3000-5000 Yuan Wohnungskäufe unterstützen.
Der Preis bezieht sich auf den Quadratmeter und bringt viele Angehörige
der Shanghaier Mittelschicht dazu, sich den Kauf einer neuen Wohnung
zu überlegen. Second-hand-Immobilienmakler wie Wu Haiyan, 23, profitieren
von diesem Kaufrausch. "Ich habe sieben Tage die Woche zu tun",
lacht sie. Tagtäglich ist Frau Wu unterwegs, gebrauchte Wohnungen
unters Volk zu bringen. Wohnungen, die höchstens zwei bis drei
Jahre alt sind, und dementsprechend trotz des geringeren Preises hohen
Wohnwert besitzen.
Auch mein Lehrer Xu Lie profitiert vom momentanen Wohnraumbedarf. Er
könne seine gerade eben erstandene Wohnung jederzeit für mehr
als 600.000 Yuan wieder verkaufen. Er gehe allerdings davon aus, dass
sich dieser Bedarf höchstens noch zwei Jahre halten werde.
Wir betreten eine U-Bahn-Station der blauen Perlen-Linie. Ingesamt sollen
10 U-Bahn-Linien gebaut werden, meint er kopfschüttelnd. Ich frage
mich vor allem, wohin. Der wild gewachsene infrastrukturelle Kern der
Stadt scheint nicht mehr sehr viele Hochbahnen und Schnellstraßen
ertragen zu können. Für ihn steht allerdings nach wie vor
fest:
„Shanghai macht Spaß, jeder Tag ist anders, kama sagen.“
Wie das denn nun sei mit den zwei Millionen Yuan, von denen er am Telefon
erzählt habe, will ich wissen. Und mein Lehrer erzählt eine
Geschichte, wie sie im Grunde nur in China spielen kann. Er habe als
Deutschlehrer dem Sohn eines Bekannten Nachhilfe gegeben. Der Sohn sollte
auf ein Schweizer Gymnasium, und die Eingangsprüfungen waren schwer.
Nach intensiver Vorbereitung bestand der Spross jedoch die Aufnahmeklausuren
und der schwerreiche Vater fühlte sich Herrn Xu auf besondere Weise
verpflichtet. "Eines Tages kommt er zu mir, drückt mir dieses
Geld in die Hand und sagt, mach damit, was Du willst", schmunzelt
Xu. Sein Bekannter ist überdies ein einflussreicher Immobilienhändler,
"einer, der seine Wohnungen verkauft hat, bevor sie überhaupt
gebaut worden sind", lacht mein Gesprächspartner. Und so erhält
der Deutschlehrer noch ein ganzes leer stehendes Stockwerk als Räumlichkeiten
für eine Privatschule dazu. Er habe sich ganz schön die Augen
gerieben, meint Xu Lie, als wir auf der Baustelle stehen, aus der einmal
eine Schule für Deutsch, Englisch und Französisch werden soll.
Wir verabschieden uns in der Metro. Kurz bevor er aussteigt, beugt er
sich zu mir herüber. „Manchmal ist China einfach verrückt“,
meint Herr Xu. Mir scheint, es schwingen Ehrfurcht und Skepsis in seiner
Stimme.
Was die Aufgaben eines Wohnviertelkommittees sind und warum ausgerechnet
dort die Bewohner auf Demokratie in China hoffen, steht in Eintrag
Nr.10: Xiao qu.
zurück zur Übersicht