Englischunterricht bei den Großen
03/03/03
Da sowohl in der ersten Woche (als auch später) keine Deutschstudenten
aufzutreiben waren, stand für mich ab sofort "Umgangsamerikanisch"
auf dem Lehrplan. Es gab zwei Klassen mit jeweils sechs Studenten, die
allerdings aus ganz unterschiedlicher Klientel bestanden.
Die erste Schülerschar setzte sich aus kleinen hyperaktiven verwöhnten
Sechsjährigen zusammen, deren Motivation Englisch zu lernen, regelmäßig
von Müdigkeit, Spieltrieb und mittelschweren Gefechten mit dem
Stuhlnachbar überlagert wurde.
Klasse Nummer Zwei bestand aus größeren Kindern zwischen
16 und 60
[photo].
Hier traf der Mittelstufenschüler auf die Unternehmersgattin, der
Künstler auf die Bankangestellte. Der Leser versteht, warum mir
diese Schülerschar zu unterrichten mehr Freude bereitet hat. Vor
allem der Künstler
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hauptberuflich als Reporter für die Shanghaier Abendzeitung Xinmin
wanbao tätig, trug entscheidend dazu bei, die als Umgangssprache
Englisch angekündigte Klasse, auch zu einer solchen zu machen.
Mit ihm begegnete mir einer der ganz wenigen Chinesen, der einen sehr
kreativen, spielerischen Umgang mit (der fremden und der eigenen) Sprache
pflegen konnte
[photo].
Und kaum Angst vor grammatikalischen Blamagen hatte
[photo].
Er war es auch, der uns für ein gemütlicheres Unterrichtsambiente
zu sich nach Hause einlud.
Seine Wohnung befindet sich in einem modernen, aus mehreren Wolkenkratzern
bestehenden Gebäudekomplex (
xiao
qu), den man im Deutschen wohl am ehesten mit Wohnresidenz
umschreibt
[photo].
Wachposten am Eingangstor auch hier und viele sandfarbene Pflastersteine,
die einem das Gefühl von Sauberkeit und Wärme vermitteln.
Im 18. Stock angekommen, bin ich angenehm überrascht vom europäischen
Einrichtungsstil, der sich vor allem durch spartanisches Möbelarrangement
und das Fehlen chinesischer Statussymbole (wie dem monströsen Fernsehbildschirm)
bemerkbar macht. Könnte als Arrangement auch einem Katalog von
Schöner Wohnen entsprungen sein, nur dass es sich hier nicht um
die Angebotswoche "Ein Hauch von Asien" handelt, sondern um
des Künstlers eigene Kalligraphien und Zeichnungen, die die Wohnungswände
zieren. Als Unterrichtshintergrundmusik überrascht er mit den Moments
musiceaux von Franz Schubert, einem olr favorite. So wählt der
Lehrer an diesem Tag auch eher ungewöhnliche Themen. Das eigentliche
Lehrbuch, von einer amerikanischen Bestseller-Autorin verfasst, mit
der recht ungewöhnlichen Geschichte eines Chinesen, der nach Amerika
fliegt und dort auf seiner Reise von West nach Ost eine Amerikanerin
heiratet, wird an diesem Tage von zwei wichtigeren Fragen verdrängt:
"Wie verhalte ich mich, wenn ich verärgert/traurig/fröhlich
bin?" und "Was ist das Schönste, was ich in meinem Leben
bislang gesehen habe?".
So entspannt sich zu den Klängen des Wiener Romantikers ein in
der Tat wunderbarer Dialog zwischen mir und meinen Schülern. Die
Besonderheit solcher Fragen liegt vor allem darin, dass hier die unterschiedlichsten
Lebenserfahrungen aufeinander treffen. Die Entgegnungen sind für
den Lehrer wesentlich spannender als die grammatikalische Korrektheit
der Standardantwort von "Wie komme ich zum Bahnhof?" zu überprüfen.
Die Reaktionen auf ärgerliche Situationen, über die wir uns
unterhalten, unterscheiden sich zu meiner Freude auf erhebliche Weise.
Wählt der sehr introvertierte Herr Yi, Mitte 30, eher das Bett
und schläft seinen Ärger einfach weg, so fährt die meist
fröhliche Frau Qian, Mitte 50, schon mal ans Meer und brüllt
gegen die Brandung. Jinjin und Liangliang, die beiden 16-jährigen
Kinder meiner Gastfamilie, tun das Gleiche, allerdings am liebsten von
Hochhäusern aus. Frau Wang, Mitte 30, Unternehmergattin, greift
auf die klassische Frustrationsbewältigung zurück: sie geht
shoppen. Mein wertgeschätzter Künstler, Herr Li, Ende 50,
genehmigt sich einen schönen vollmundigen Whiskey und denkt an
schöne Landschaften.
Was uns zur zweiten Frage bringt, die ähnlich reichhaltige Antworten
liefert. Herr Yi, der stille Ingenieur, erzählt leise und unsicher
von einer der größten Pferdezüchtereien Chinas in der
Provinz Gansu, deren Landschaft an eine Mischung aus Innere Mongolei
und Tibet erinnert. Frau Wang, die Produzentin von elektrischen Messgeräten,
schwärmt vom Westsee in Hangzhou und den abendlichen Ufer-Spaziergängen.
Jinjin, die Tochter meiner chinesischen Wirtin, spricht sehr leise und
verlegen von den Wasserfällen in Wuxi, die durch Auffangbecken
verbunden, in insgesamt fünf Kaskaden zu Tal stürzen. Ihr
Bruder Liangliang scheint es mit den Hochhäusern zu haben und äußert
sich auch hier begeistert über die Ameisenhaftigkeit der Welt,
gesehen aus über 400 Metern Höhe im 88. Stock des Jinmao Tower
in Pudong (Shanghais aufstrebendem Finanzzentrum östlich des Huangpu-Flusses).
Herr Li, der Kupferstichspezialist, malt in Worten den Frühling
am Tianma-Hügel im Shanghaier Vorort Songjiang. Vogelgezwitscher,
Blüten, grünes Gras und eine leichte Maibrise, seine Augen
hinter der dicken Hornbrille blinzeln vergnügt. Die Klasse freut
sich mit ihm. Frau Qian berichtet vom Frühling in Toronto, wo ihre
Tochter lebt. Dort unterscheiden sich die kleinen Vorgärten in
liebevollen Details voneinander, die Straßen sind mit unterschiedlichsten
Baumsorten gesäumt (was ihr in China, dem Land der Einheitsalleen,
schon seit langem fehlt). Ach ja, alles sei so furchtbar sauber.
Die Moments musiceaux sind da schon zwei Mal komplett gespielt und der
Tee lauwarm. Zeit zum Aufbrechen, Herr Li bringt uns an die Fahrradparkplätze
im Erdgeschoss. Vor Freude über diese heimische Unterrichtsstunde
knetet er noch eine Weile meine Schulter, während die Sonne langsam
hinter dem Wohnkomplex verschwindet.
Wie sich der Englischunterricht bei den Kleinen gestaltet und warum
olr dabei zum USA-Onkel wird, steht in Eintrag
Nr. 5: Englischunterricht bei den Kleinen.
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