Englischunterricht bei den Kleinen
10/03/03

Mein Kindergarten im Zentrum der Stadt, ebenfalls sechs Schüler, kann im Vergleich zum Englischunterricht bei den Großen unterschiedlicher kaum sein.
Dass ich hier keine tief gehenden Diskussionsrunden leiten kann, ist einleuchtend. Doch auch ein Englischunterricht im Sinne der Vermittlung fundamentaler Sprachkenntnisse ist unmöglich. Olr wird zum USA-Onkel, der ein paar bunte Bildchen mitbringt und sich von den umsitzenden Teppichratten fröhlich-tolerant die Oberschenkel bearbeiten lässt. Mit den allseits besorgten und ambitionierten (Groß-)Eltern im Hintergrund sind die Kleinen sowohl abgelenkt als auch verspannt. Manche einfache Antwort ist in einem Augenblick möglich, im anderen führt sie zu roten Ohren und Schweißausbrüchen. Wenn ich den Aussagen der Eltern Glauben schenken darf, dass ich sehr beliebt bei den Kleinen sei (was wahrscheinlich auf meinen vollständigen Verzicht von Gewaltanwendung zurückzuführen sein dürfte), dann drücken sie diese Sympathie vor allem durch einen fast schmerzhaften Lärmpegel aus.
Frei nach dem Motto "Je lauter ich brülle, umso richtiger wird meine Antwort" fühlt sich der Lehreronkel am Ende seiner Stunde wie zu pubertären Diskobesuchszeiten, leicht verschwitzt und taub. Ironischerweise trägt die aktuelle Kampagne "Lasst uns unsere Kinder zu liebenswerten Shanghainesen erziehen" (Rang women zuo keai de Shanghai ren), die den nötigen kindlichen Freiraum in der Erziehung betont, unfreiwillig dazu bei, dass den Kindern gar keine Freizeit mehr bleibt.
Öffentlichkeitswirksame Erziehungspropaganda ("Geben Sie Ihrem Kind eine Aufgabe, lassen Sie es selber eine Lösung finden; geben Sie Ihrem Kind mehr Freiraum, lassen Sie es selbst entscheiden") bewirkt eher das Gegenteil.
Sechsjährige Großstadtkinder haben heutzutage nicht selten den Tagesablauf eines erwachsenen Angestellten, Überstunden miteingerechnet. Die meisten meiner Schüler und ihrer Klassenkameraden spielen ein Instrument (Geige, Klavier), haben Ballettuntericht, lernen nebenher Englisch oder eine andere Sprache und werden zu diversen Gesangs-, Gedicht- oder sonstigen Vorführwettbewerben geschickt. Der Druck ist groß, die Konkurrenz der Kleinen untereinander sowieso. Manches Mal erschrecke ich beim Anblick eines müden Kindergesichtes [photo], das umso vieles älter aussehen kann. Die Ambitionen der Elterngeneration, zwischen 30 und 40 Jahre alt, sind groß. Neben der klassischen Antwort "Unser Kind soll es einmal besser haben als wir" spielen auch die finanzielle Situation und der Status eine Rolle.
Der Eindruck verstärkt sich zusehends, dass vieles von dem, was die Kinder heute lernen und ihr Hobby nennen, deswegen gelernt werden muss, weil man es sich mittlerweile leisten kann. So wie in etlichen chinesischen Mittelstandsfamilien ein Klavier steht, ohne dass tatsächlich jemand darauf spielen könnte. Es wird im aktuellen Hype um Freizeitangebote für Kinder sicher noch eine Weile vergehen, bis den ersten Elterngruppen klar geworden ist, dass ihr Wohlstand den eigenen Kindern zu einem ganz anderen Privileg verhelfen kann: dem Nichtstun.



Was man nach dem Abendessen in Shanghai erfahren kann und warum 12 Stunden Schule normal sind, steht in Eintrag Nr. 6: Am Küchentisch.


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© oliver l. radtke, 2003