Erste Eindrücke
22/02/03
Nachdem Air France, ohne mit der Wimper zu zucken, den Nachmittagsflug
nach Shanghai gestrichen hatte und wir zwölf Stunden auf den nächsten
morgens um zwei warten mussten, nach einem schön kalten Ausflug
in die Pariser Innenstadt und nach elf Stunden Kampf mit dem Video-Display,
das immer dann anging, wenn ich schlafen wollte, verbringe ich nun schon
die zweite Nacht in meinem Mahagonibett in Shanghai Mitte.
Wie in vielen Fällen des neuen chinesischen Mittelstandes sind
die Schulleitung und ihre Angestellten teils verwandt, teils lang befreundete
Familien. Im jetzigen Fall sieht die Konstellation ungefähr wie
folgt aus:
Die Schuldirektorin hat eine jüngere Schwester, Ying Yichen, bei
der ich untergekommen bin. Meine drei Heidelberger Kommilitonen leben
entweder bei der Schulleiterin selber oder in ihrem Zweitappartment.
Die Wohnungen sind meist im Besitz ihrer Bewohner und befinden sich
in einem abgeriegelten
Wohnkomplex
mit üppig angelegtem Garten im Innenhof. Zwei Haupteingänge
bewachen nach amerikanischem Vorbild den Strom der Besucher. Ohne Anmeldung
oder bei unbekannten Gesichtern wird vom Wachpersonal sofort nachgehakt.
Meine Gastgeberin und ihr Mann, Wu Gong, haben ihre Wohnung vor zwei
Jahren erworben. Bei Kaufvertragsunterschrift ist in den Zimmern außer
nackten Betonwänden nichts zu finden, so dass der neue Besitzer
zuerst einmal tapezieren oder fliesen muss. Der Markt dafür scheint
stark von einer bestimmten Stilrichtung geprägt zu sein - Hardcore-Ekklektizismus.
Denn:
Die räumliche Ausstattung ist für westliche Augen beeindruckend
geschmacklos.
Hier treffen altgriechische Agora-Säulen auf Blümchentapete
und postmoderne Designer-Stühle. In der Mitte des Wohnzimmers steht
ein riesiger Fernseher. Meine Familie gehört der hiesigen christlichen
Glaubensgemeinschaft an, daher prangt über Stereoanlage und rotierenden
Weihnachtsmännern eine Jesus-Uhr mit Heiligenmotiv. Was ebenso
auffällt, ist die Kälte. Viele Eigentumswohnungen haben keine
Heizung, höchstens ein Standgebläse in der Ecke. Leicht beschämt,
habe ich einen kleinen tragbaren Ofen in Empfang genommen, der mir hier
beim Schreiben gute Dienste leistet.
Zwar leide ich nicht unter dem Zeitunterschied, merke aber, wie anders
der chinesische Familienrhythmus ist. Um zehn Uhr abends gehen alle
vier ins Bett. Warum vier? Wu Gong und Ying Yichen haben einen Sohn
und eine Tochter, was zwar gegen die Ein-Kind-Politik verstößt,
aber, durch eine Strafnachzahlung "in Ordnung gebracht werden kann",
lacht der Familienvater. Die beiden Kinder bewohnen ein Zimmer und sind
furchtbar anständig. Bei ihnen bekomme ich fast den Eindruck eines
alten Ehepaares, das auf sittsame, geduldige Art seinen Alltag abwickelt.
Am meisten beeindruckt hat mich die Freundlichkeit und das Vertrauen,
das mir entgegengebracht wurde. Ich besitze seit dem ersten Abend einen
eigenen Schlüssel und kann kommen und gehen, wann ich will. Das
Gehen ist allerdings nach chinesischer Tradition immer mit vielen Wünschen,
Ermahnungen und Abschiedsgrüßen verbunden. Den ersten Abend
wurde ich offiziell vom weiblichen Familienoberhaupt beim Friseur des
Wohnkomplexes vorgestellt. Bezahlt hatte die Schulleitung. So kam ich
nach einem Jahr erneut in den Genuss einer höchst angenehmen chinesischen
Kopf- und Rückenmassage. Die Fürsorge und der eigene Spieltrieb
des für uns zuständigen Lehrers führte uns noch zu später
Stunde zur örtlichen Go-Kart-Bahn. Acht Minuten Vollgas, drei Überholungen
und eine Portion Abgaslunge später war der Spaß auch schon
vorbei.
Su Bin, unser pädagogisches Mädchen für alles,
zieht
uns, voller kindlicher Freude über seinen neuen Rundenrekord,
in die kalte Nachtluft.
Warum olr gleich am ersten Morgen vom Shanghaier Fernsehen interviewt
wurde und wie das Geschäft mit Fremdsprachen in China funktioniert,
steht in Eintrag Nr. 3: Business.
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