Business
28/02/03

Wie schon während der letzten drei China-Aufenthalte werde ich auch dieses Mal aufgrund meiner (stereo)typischen Ausländerhaftigkeit (große Nase, blond) bevorzugt ins Rampenlicht gestellt.
Amüsant und bedenklich zugleich ist die Tatsache, dass höher oder überhaupt qualifiziertes heimisches Lehrerpersonal bei der Jobvergabe gegen mich kaum eine Chance hat. Der Grund ist einfach: sie sehen zu chinesisch aus. In Shanghai besteht nach verschiedenen Schätzungen zur Zeit ein Bedarf an mehreren tausend Fremdsprachenlehrern. Der multilinguale Hype, durch verschiedenste Gründe ausgelöst (WTO, Expo 2010 in Shanghai, verbesserte Karrierechancen bei 6-jährigen), schafft einen großen Markt, der seine Preise zur Zeit noch fast nach Belieben festlegen kann.
Der erste English Corner [photo] für olr im Jahre 2003 fand gegenüber der Gemeindeschule im Changshou Park statt. 2001 gegründet, beherbergt er schon morgens die übliche Mischung aus Taiji-, Tanz- und Zockergruppen. Der erste Rundgang verdeutlicht mir erneut den akustischen Unterschied zwischen europäischer und chinesischer Parkgestaltung.
Gelten in der Alten Welt öffentliche Gärten immer noch als grüne Freiräume individueller Entspannung mit Rasenflächen für jedermann, für Akrobatik-, Capoeira- und Picknickgruppen, Jongleure, Leseratten, Frisbeefreaks, deren Akustikkulisse eine einlullende, beruhigende Wirkung haben können, so begrüßt einen der moderne chinesische Stadtpark mit durchdringender Popmusik. Elegant in kleinen Büschen am Wegesrand versteckt, pumpt mich der Bass in Richtung Parkmitte, wo das Programm wechselt und ich in voller Lautstärke die Neun-Uhr-Nachrichten hören darf.
Die vier Monate alte Sprachschule möchte sich den Park und die zweiwöchentlich stattfindenden English Corners [photo] als Werbeveranstaltung zunutze machen und hat zu diesem Zweck auch ein Fernsehteam eingeladen. Völlig verschlafen werde ich vor die Kamera gestellt, ohne irgendein Detail zu dieser Veranstaltung erfahren zu haben, und soll nun einen überzeugenden Propagandaauftritt aufs Pflaster legen. Das Interview läuft zeitverzögert ab. Nachdem der Reporter die Frage gestellt hat, warte ich darauf, dass mir von hinten die Antwort zugeflüstert wird. So entsteht der Eindruck, ich hätte einen Sprachfehler oder zumindest nicht die zerebrale Kompetenz, einen Satz von Anfang bis Ende zu sprechen. Eine reichlich überflüssige Aktion, der Schulleiter hätte das sicher besser hinbekommen. Motiv für diese Wahl: siehe oben.
Mütter mit ihren anderthalbjährigen Sohnemännern [photo] auf dem Arm stehen ungeduldig Schlange, bis sie stolz die Sprachkünste ihrer Wunderkinder [photo] präsentieren dürfen. Ganz neuen Aufwind bekommt das Motto "Früh übt sich..." bei einem Windelbündel [photo], das noch nicht richtig stehen, aber "apple, apple" sagen kann. Der Vorführzwang zieht sich durch alle Altersklassen. Ob noch mit Babyspeck, Pubertätspusteln oder Altersfalten im Gesicht, jeder Gesprächspartner vermittelt mir eine auf Dauer sehr anstrengende Übereifrigkeit, die von den im Hintergrund drängelnden, flüsternden Eltern oder Ehepartnern noch angeheizt wird.
Besonders jedoch bei den Sechs- bis Zehnjährigen ist der Druck von hinten extrem groß. So groß, dass ein Gespräch kaum möglich ist. Es geht eher darum, die Kleinen ihre auswendig gelernten Fragen und Antworten aufsagen zu lassen und hinterher öffentlich ein großes Lob in die begierige Menge zu streuen. Die Mutter freut´s, das Kind hat seine Ruhe und ich übe mein Diplomatenchinesisch.
Frontaluntericht, in dem der Lehrer erster und einziger Meinungsträger sein darf, in dem es um Auswendiglernen und Aufsagen geht, bringt bis zum heutigen Tage in China sehr wenige Schüler hervor, die flüssig und vor allem verständlich in einer Fremdsprache kommunizieren können. Daher besteht meine Taktik meistens darin, mein Gegenüber so sehr von seinen auswendiggelernten Themen abzubringen, dass schlussendlich ein gebrochenes, aber authentisches Gespräch möglich ist.


Mit wem sich olr in seinen Klassen so unterhält und warum eher Franz Schubert als mein Lehrbuch dabei eine Rolle spielen, steht in Eintrag Nr. 4: Englischunterricht bei den Großen.


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© oliver l. radtke, 2003