Samstag, 2. Februar 2008

Xinnian kuaile zwischen Singapur und China.

Gedanken zum chinesischen Frühlingsfest


Das chinesische Weihnachtsfest steht vor der Tür. Wie bitte? Muss es nicht chinesisches Sylvester heißen? Wenn am 6. Februar der letzte Tag des Jahres im chinesischen Mondkalender anbricht, stehen Chinesen und Singapurer Kopf – freudig und ungeduldig wie kleine Kinder an Weihnachten. Oder eben Sylvester: „Ist es schon 12?“
Chunjie, das Frühlingsfest, wobei Fest eher „zweiwöchige Party“ heißen müsste, ist der wichtigste Termin im Mondkalender für Chinesen weltweit. Auch in Singapur schlägt der Puls der Stadt dann anders.

Während das hinduistische Lichterfest Deepavali genauso wie sein malyaisches Pendant Hara Raya Raji im emotionalen Bermudadreieck der meisten chinesischstämmigen Singapurer klanglos verschwindet, hat sich Weihnachten mit der pertinenten Dauerberieselung durch Bing Crosby und Doris Day und aggressiv platzierten Christbäumen zumindest auf der Landkarte halten können. Nongli xinnian löst in den meisten Singapurern (rund drei Viertel der Bevölkerung) allerdings wahrhaft leidenschaftliche Gefühle aus. Ein so wildes (wie unwahrscheinliches) Popkonzert der Wilderecker Herzbuben mit den Backstreet Boys und Rammstein trifft es gut. Die ganz große Sause eben.

Dazu: Chinesen sind abergläubisch. Nicht im westlichen Sinne, wo manche Fernsehzeitschrift ihr ganzes Einkommen auf diesen Umstand gründen kann, sondern mit Stil. Und Geschichte. Die meisten der überlieferten Bräuche sind mehrere tausend Jahre alt. Lassen Sie mich Ihnen einige vorstellen.

Ein Spaziergang durch Singapurs Chinatown zeigt dem Besucher Anfang Februar, die Glücksfarbe lautet rot. Je knalliger, desto besser. Der Legende nach kam die Farbe übrigens als Abwehrmechanismus gegen den menschenfressenden Dämonen Nian zum Einsatz. Heute sind Tradition und Moderne wild gemischt. Neue rote Hausschuhe (die man vor dem Neujahrstag zu kaufen und ab dem Neujahrstag zu tragen hat) treffen auf rote Handyanhänger (die das ganze Jahr über cool sind). Xinnianhua, rote dreiteilige Bildergeschichten, die am Neujahrstag Wohnungstüren und Hauseingänge verzieren und als Vorläufer des chinesischen Comics gelten, Fische, pralle Babys, Pfirsiche – Dutzende Stände rund um die Smith Street bieten alle glücksbringenden Symbole der chinesischen Mythologie und (vorrangig taiwanesischen) Süßkram zum Verkauf.

Gekauft wird am letzten Tag des Jahres, zumindest in China, auch die große Show. Pünktlich um 20 Uhr am letzten Abend des Jahres läutet das chinesisch Staatsfernsehen mit seiner mehrstündigen Propagandagala Chunjie lianhuan wanhui die Neujahrsfeierlichkeiten ein. Die mitunter aus allen Teilen des Landes eigens angereiste Familie versammelt sich um den Fernseher und knetet chinesische Maultaschen, Jiaozi, wenn der Fernseher in Peking steht. Stammt die Familie aus Südchina, gibt es vorrangig – wie in Singapur, wo die meisten Ahnen aus Kanton & Co emigrierten – Klebreisküchlein namens Niangao. Jung und alt haben nach einem halben Arbeitstag die Stube kräftig geschrubbt. Überall hängt Fu, das Schriftzeichen für Glück, auf dem Kopf und lädt den Reichtum zum Kommen und Bleiben ein.

Um Mitternacht sprühen Feuerwerke. Doch während ganz China unter der Explosionsgewalt von legalen und illegalen Feuerwerkskörpern.erschüttert, bleibt Singapur erstaunlich leise. Immerhin veranstaltet die staatliche Tourismusbehörde nach drei Jahrzehnten des Komplettverbots seit wenigen Jahren nun zumindest monopolisierte Krachershows in Chinatown. Privater Böllerbesitz ist in Singapur nach wie vor nicht erlaubt.
Doch was die Inselbewohner an Knallerspaß vermissen lassen, machen sie mit Salaten wieder wett. Die Tradition des rohen Fischsalates Yu Sheng, den Familie und Freunde unter lautstarken geäußerten Neujahrsgrüßen mit überdimensionalen Essstäbchen gemeinsam durcheinanderwirbeln, gibt es – zum chinesischen Neujahr – nur in Singapur und Malaysia. Sollte Sie eine Singapurer Familie in den darauffolgenden Tagen zum Feiern einladen, machen Sie sich auf eine ordentliche Schüttelei gefasst. Schon mal mit den Stäbchen üben. Es lohnt sich, der Fisch steht für Wohlstand und ein Leben im Überfluss.

Der Kater an Chinesisch Neujahr dauert nicht wie im Westen einen Tag, er dauert 14 Tage. Gut, dass das Land die ersten drei davon offiziell zur Erholung frei bekommt. Singapur darf hingegen lediglich an zwei Morgen ausschlafen, übrigens der einzige Doppelfeiertag des Jahres.
Das Frühlingsfest ist ein Familienfest. Die verehrte Verwandtschaft klopft dann auch gerne bereits am nächsten Morgen an der Tür. In den ersten Feiertagen stehen vor allem Eltern und Schwiegeeltern auf dem Programm, am siebten Feiertag renri hat „jedermann Geburtstag“, der als besonderer Festtag kaum noch eine Rolle spielt, weil mittlerweile auch in China jeder individuell seinen Geburtstag feiert.
Sollten Sie in diesen Tagen von Kollegen oder Freunden zum Essen eingeladen werden, bringen Sie essbare Glücksbringer mit: zwei Mandarinen gehören als Gastgeschenk zum Frühlingsfest wie Lebkuchen zu Weihnachten. Seien Sie nicht überrascht, wenn Ihnen der Gastgeber auch etwas schenkt: rote Umschläge, hong bao, mit kleinen Geldbeträgen. Wünschen Sie Ihrem Gastgeber Gong Xi Fa Cai, oder dialektal, da die Vorfahren der meisten Singapurer aus der chinesischen Provinz Fujian stammen, Keong hee huat chye.

Während der Feiertage geht keiner Ihrer Kollegen zum Friseur, wer will schließlich mit seinen Haaren (fa) auch gleich sein Neujahrsglück (fa) verlieren? Sie sollten Buchgeschenke vermeiden, da shu (Buch) und shu (verlieren) ähnlich klingen. Erlaubt ist hingegen – selbst an Neujahr – der finanzielle Ruin am Mahjongg-Tisch, wo in chinesischen Runden immer um Geld gespielt wird. Die Knete bleibt schließlich in der Verwandtschaft.

Zwei Wochen nach Neujahr endet chunjie, das Frühlingsfest, stilvoll mit St. Martin. Wie bitte? Aber sicher, Jung und Alt prozessieren am yuanxiaojie mit selbst gebastelten Laternen durch die Nachbarschaft. Der kulinarische Höhepunkt des Tages, in China wie in Singapur, sind yuanxiao, Klebreisbällchen mit süßer Füllung.

Feiern Sie mit Ihren Kollegen, aber freuen Sie sich auch darauf, dass die Ende Februar wieder ansprechbar sind. Der Stress der Feierlichkeiten, unzählige Verwandschaftsbesuche und das gegenseitige Schenken vieler, vieler hongbao sind dann vorbei und können bis zum nächsten Jahr warten, wenn es wieder heißt: Xinnian hao – Prost Neujahr!

Übrigens: 2008 ist das Jahr der Ratte. Die Ratte ist ein echter Familienmensch, großzügig und arbeitsam. Ratten geben gute Ratschläge, die sie selbst nie beachten. Ratten sind auch Geheimniskrämer, maßlos und selbstsüchtig. Gute Berufsaussichten für männliche Ratten finden sich in den Bereichen Werbung, Catering, Musik und Medien. Rättinnen sollten es mit den Gebieten Hotelgewerbe, Mode, Schriftstellerei oder einem Schönheitssalon versuchen. Shakespeare, Tolstoi, Jules Verne, Johann Sebastian Bach, Prinz Charles und Marlon Brando sind Ratten. Die spannendste Frage der ganzen kleinen Tierkreiszeichenshow, deretwegen Chinesen die Frage nach Ihrem Alter überhaupt erst stellen: Mit wem können Sie am besten? Hasen oder Schafe passen zur Ratte wie die Gans zum Fuchs. Affe, Drache und Büffel verstehen sich hingegen gut mit Ihnen.

Mehr über Chinas Traditionen, seinen spannenden Weg in die Moderne und natürlich einen vollständigen Zyklus aller Tierkreiszeichen finden Sie in Oliver Radtkes Buch „Welcome to Presence – Abenteuer Alltag in China“, das im Dryas Verlag erschienen ist. Rund 300 Seiten, mit Bildteil, 12,95 Euro. Erhältlich auch über den einschlägigen Onlineversand.

(erschienen in Impulse, Februar 2008)

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