Montag, 15. Oktober 2007

Zeitgeschichte zum Anfassen.

Zu Besuch im ersten chinesischen Spielzeugmuseum


Das älteste deutsche Spielzeugmuseum steht im thüringischen Sonneberg, sein französisches Pendant in Moirans. Chinas erstes Spielzeugmuseum befindet sich in – Singapur. Hinter dem ungewöhnlichen Projekt steht ein Mann: Marvin Chan. Der gelernte Grafikdesigner aus Hongkong hat seine Sammelleidenschaft zum Beruf gemacht. „Ich mag Design, ich liebe Geschichte und ich sammle Spielzeuge. In diesem Haus kommt alles zusammen“, sagt der 42-jährige mit ausladender Geste.

Sein persönliches Erweckungserlebnis hat Chan 1993 bei einem Besuch des Kitahara Tin Toy Museum in Yokohama, das ausschließlich japanische Produkte ausstellt. „Ab da wusste ich, das will ich für chinesisches Spielzeug machen und nachfolgenden Generationen weitergeben.“

Was Chan von anderen Sammlern unterscheidet, ist, dass er sich für die Geschichte der chinesischen Spielzeugindstrie und seine kreativen Akteure interessiert. So reist er 1990 erstmals nach Shanghai – „die Stadt fasziniert mich seit meiner Jugend“ – und recherchiert vor Ort. Gerade erst ist Chan von einem zweiwöchigen Filmdreh in der Stadt am Huangpufluss zurückgekehrt. Zusammen mit Freunden produziert der umtriebige Sammler zur Zeit eine Dokumentation über ehemalige Arbeiter und Designer der chinesischen Spielzeugindustrie.

Doch nicht nur sein Direktor, auch die Lage des Privatmuseums ist ungewöhnlich, Rowell Road Nummer 83 liegt mitten im Rotlichtviertel von Little India. Als Chan zusammen mit seiner Frau Serene das Museum im November 2005 eröffnet, ist nicht nur die Lage für viele Besucher ungewohnt. „Etliche Leute waren erstaunt, dass sie für ein Museum Eintritt bezahlen sollen. Die meisten Singapurer kennen eben nur staatliche Einrichtungen, die kostenlos sind.“

Warum sein Haus eigentlich Museum of Shanghai Toys heisse, wenn es doch Spielzeug aus ganz China ausstelle? „Bis anfangs der 80er war Shanghai Zentrum der chinesischen Spielzeugproduktion“, erklärt der 42-jährige.

Der Großteil seiner Besucher kommt aus Singapurs Kindergärten und Grundschulen. Ob sich den Kleinen der politische und historische Kontext vieler seiner Ausstellungsstücke überhaupt erschließen könne? Malvin Chan lächelt schmerzhaft. „Das Museum muss wirtschaftlich sein.“
Der überdimensionierte Teddybär am Eingang, der so gar nicht zu den filigranen Puppen der 20er Jahre und den Rotgardisten aus der Kulturrevolution passen will, ist sicher das deutlichste Zugeständnis an die Notwendigkeit, Kulturarbeit in Singapur profitabel und leicht verdaulich zu gestalten.

„Manchmal fragt mich meine Frau, warum wir kein normales Leben führen können“, lacht Chan. „Aber ich rauche nicht, trinke nicht, fahre kein Auto, mein Geld fließt ausschließlich in diese Sammlung.“
3000 Stücke aus 100 Jahren Spielzeuggeschichte nennt Chan sein eigen, ein Drittel davon präsentiert er in schlichten, gut ausgeleuchteten Glasvitrinen auf drei Stockwerken.

Sein Fazit kurz vor dem 2-jährigen Jubiläum im November? „Ich hoffe, das Museum irgendwann nach China bringen zu können, da gehört es eigentlich hin“, sagt er nachdenklich. Bis es soweit ist, wird er weiter sammeln.


Info:
Museum Of Shanghai Toys
83 Rowell Road
Singapore 208015
Telefon: 65 6294 7747
http://www.most.com.sg

Öffnungszeiten
Di – So 11 bis 19.00
(montags geschlossen)

Eintritt
S$8 (Erwachsene) / S$5 (Kinder/Schüler/Studenten)

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Sonntag, 12. August 2007

Kunst auf kleinstem Raum.

Das Singapurer Philateliemuseum zeigt erstmals alle Sonderbriefmarken zum Nationalfeiertag


Wann haben Sie sich das letzte Mal eine Briefmarke genauer angesehen? Wann hatten Sie überhaupt das letzte Mal eine Briefmarke in der Hand?
Für die meisten Menschen ist das geriffelte Stück Papier heutzutage nicht mehr als ein leicht antiquiertes Produkt aus Zeiten als Briefe schreiben noch nicht Snail mail (Schneckenpost) hieß.

Dass Briefmarken auch kleine Kunstwerke und farbige Zeugnisse vergangener Tage sein können, stellt nun das Singapurer Philateliemuseum anschaulich unter Beweis. Die kleine, aber feine Institution an der Coleman Street zeigt bis zum 14. Oktober erstmalig alle zum Nationalfeiertag am 9. August erschienen Sonderbriefmarken.

Der in Anlehnung an die Landesfahne ganz in rot und weiß gehaltene Ausstellungsraum lädt den Besucher ein, in chronologischer Reihenfolge alle zwischen 1960 und 2007 erschienen Kunstwerke in Originalgröße zu betrachten. Die Motive zeigen die Herausforderungen der jeweiligen Epoche: die Erschaffung einer multikulturellen Gesellschaft, die Wohnungsfrage oder Singapurs Industrialisierung. Viele Motive machen eines erneut deutlich: ohne Singapurs Bevölkerung wäre der rasche Wandel des Stadtstaates so nicht möglich gewesen. Dementsprechend oft tauchen die vier Ethnien beziehungsweise die Familie als Thema auf den Zeichnungen auf. Die Hauptfiguren sind Arbeiter, Schüler, Soldaten und Kinder.
Dem aus einem um Gleichberechtigung bemühten Land stammenden Reporter fällt jedoch sofort ins Auge: Frauen tauchen als Grundpfeiler der Gesellschaft in den Kunstwerken nicht auf.

Auch sonst sind die Briefmarken künstlerisch Kinder ihrer Zeit: von der Ausgabe zum ersten Jahrestag am 9. August 1966, die in Komposition und Ausdruck stark an die Ästhetik des sozialistischen Realismus der Sowjetunion erinnert, über psychedelische Farbspielerein der 70er bis zur photorealistischen Ästhetik des 21. Jahrhunderts.
Die Ausstellung hält sich mit Erklärungen zurück und setzt ganz auf die Kraft der Bilder.

Besonders gelungen sind die Beispiele, anhand derer einzelne Produktionsschritte vom Entwurf des Künstlers mit Buntstift und Lineal bis zur fertigen Briefmarke ausgestellt sind.

So lässt sich nachvollziehen, wie viel Handarbeit es in Zeiten vor elektronischen Layout- und Grafikprogrammen bedeutete, aus einem Schwarzweißfoto von frühen Hochhäusern des Housing Development Boards im Stadtteil Queenstown schlussendlich die vielfarbigen 4 und 10 Cent-Briefmarken zum Nationalfeiertag 1963 zu basteln.
Die Ausstellung ist somit - ob gewollt oder nicht - ganz nebenbei auch eine über ausgestorbene Berufszweige.


Erfreulich ist der Entschluss der Regierung im Photoshop-Zeitalter nicht den neuesten Gigahertzrechner zu bemühen, sondern für die gestalterische Arbeit zum 42. Nationalfeiertag den Lokalkünstler Ong Kim Seng zu beauftragen, der Singapurs Sehenswürdigkeiten auf vier verschiedenen Briefmarken mit Wasserfarben festgehalten hat.

Weshalb jedoch in dem langen Zeitraum zwischen 1975 und 2003 keine Sonderausgaben zum Nationalfeiertag herausgegeben worden sind, kann auf Nachfrage selbst der Herausgeber, Singapore Post, nicht erklären.

Egal, was Sie von den Kunstwerken selbst halten mögen –wenn Sie das nächste Mal eine Briefmarke in die Hand nehmen, achten Sie vielleicht einmal darauf, wie viel Kreativität und Aussagekraft auf diesem geriffelten Stück Papier versammelt sein kann.

Info:
National Day Stamp
Dauer: bis 14. Oktober 2007
Ort: Singapore Philatelic Museum, 23-B Coleman Street, Singapore 179807
Öffnungszeiten: montags (13.00–19.00); dienstags – sonntags (9.00–19.00)
Eintrittspreise: $5 (Erwachsene); $4 (Kinder, 3–12 Jahre)
Telefon: 6337-3888
Webseite: www.spm.org.sg

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Mittwoch, 27. Juni 2007

„Nicht mehr Chinesen anschießen“

Das Singapurer Philateliemuseum zeigt erstmals eine Sammlung historischer Postkarten


Das Synonym für Singapur heißt Fortschritt. Vom ersten besitzergreifenden Schritt des Stamford Raffles im Januar 1819 bis zum Aufstieg der Stadt in die Liga der kleinen Tigerstaaten – die Insel wandelt sich unaufhörlich. Doch Fortschritt bedeutet auch – nicht nur, aber besonders im Singapurer Kontext – den Verlust von Originalität, einen fortschreitenden Mangel an historischen Rückbezügen.
Das hiesige Philateliemuseum hält dem seit Jahresanfang mit einer besonderen Ausstellung entgegen: historische Postkarten erinnern unterhaltsam und informativ an die Kultur-, Bau- und Alltagsgeschichte Singapurs. Besonders für deutsche Besucher ist diese Ausstellung ein optischer und inhaltlicher Leckerbissen.

Die zwischen 1897 und 1941 verschickten 550 Grußbotschaften stammen gänzlich aus der Privatsammlung von Professor Cheah Jin Seng, einem Singapurer Arzt und Philatelisten. In 30jähriger Leidenschaft zusammengetragen, hat Cheah seinen Schatz schließlich letztes Jahr dem kleinen, aber feinen Museum an der Coleman Street gespendet.

Die Ausstellung ist leicht verständlich konzipiert. Ein Großteil der Exponate ist in drehbaren Schaukästen ausgestellt, so dass sich Vorder- und Rückseite der Postkarten betrachten lassen. Dadurch fällt dem Besucher nicht nur auf, dass die ersten Postkarten Singapurs aus den 1880er Jahren – wie die ersten Postkarten überhaupt – auf der Vorderseite keinerlei Motiv, sondern lediglich die Anschrift des Empfängers trugen. Auch erstaunt die Menge an auf deutsch geschriebenen Postkarten, die ihren Weg in die Sammlung gefunden haben. „Die Kosten hier, eine große Ananas 2 Pf, Orangen 50 Stk. für einen Groschen, das Bier hingegen 1 Flasche ca. 1 Mark, Wein ca. 4–10 Mark“ ist auf einer Karte von 1890 zu lesen – eine frappierende Ähnlichkeit zu heutigen Alkoholpreisen.

Aus dem selben Jahr, eine Dekade vor dem chinesischen Boxeraufstand, stammt auch die folgende Erkenntnis: „Nicht mehr Chinesen anschießen. Letzteres ist neben den Kosten auch sonst wenig vorteilhaft“.

Ein Teil der ausgestellten „SMS des 19. Jahrhunderts“, wie das Museum seine Exponate flott beschreibt, ist der fleißigen Arbeit des Dresdner Fotografen G. R. Lambert zu verdanken, der im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Fotostudio in Singapur betrieb und vor allem dessen Bewohner – vom Kolonialherrn bis zum Kuli – porträtierte.

Zu den Höhepunkten der Ausstellung zählt eine auf Wandbreite vergrößerte dreiteilige Panoramapostkarte von 1902, die vom Fort Canning Hill aus einen Blick auf den noch kaum bebauten Südwesten der Insel zeigt.

Spannend ist auch der Vergleich alter und neuer Aufnahmen der Stadt, die das Museum zum besseren Verständnis nebeneinander gestellt hat.

Die Orchard Road der Jahrhundertwende mit ihren Obstgärten und Muskatnußbäumen ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Selbst auf Fotos aus den 1930er Jahren muss der Museumsbesucher ein wenig länger verweilen, um bekannte Gebäude zu entdecken.

Und der heute mit Grünflächen bedeckte und von Wolkenkratzern belagerte Raffles Square ist 1926 noch fest in der Hand von Rikscha- und Austinfahrern.

Das Museum hat aus einer ursprünglich rein philatelistischen Sammlung eine gelungene Postkartenausstellung produziert, die historische Rückbezüge ermöglicht und die kulturelle Vielfalt der kleinen Insel und ihrer Bewohner unterhaltsam zu präsentieren vermag. Besucher haben noch bis zum 1. Juli Gelegenheit, sich vom großen Wandel Singapurs ein Bild zu machen.


Info:
Yesterday Once More: A Postcard Exhibition
Dauer: 31. Januar - 1. Juli 2007
Ort: Singapore Philatelic Museum, 23-B Coleman Street, Singapore 179807
Öffnungszeiten: montags (13.00–19.00); dienstags – sonntags (9.00–19.00)
Eintrittspreise: $5 (Erwachsene); $4 (Kinder, 3–12 Jahre)
Telefon: 6337-3888
Webseite: www.spm.org.sg

(Alle Photographien mit freundlicher Genehmigung des SPM)

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Samstag, 21. April 2007

Der Schöne und das Biest.

Am Äquator lebt's sich selten allein


Ich hatte einen angenehmen Tag. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich mir vor der Wohnungstür die Schuhe auszog und feststellen musste, dass sich gestern Nacht eine Kakerlake im rechten Schuh das spanische Fußleder als letzte Ruhestätte ausgesucht hatte. Uärx. Die Vorstellung, den ganzen Tag mit einer weichgetreten Schabenleiche durch den Sender gelaufen zu sein, lässt mich nur ganz kurz verstimmt innehalten, dann schabe ich, beinahe routiniert, Chitinbeinchen und unkenntlich zergangene Innereien von meinen ehemals schönen weißen Füßlingen.

(Ich nehme mir vor am Grad der morgendlichen Ausgeschlafenheit zu arbeiten.)

Da passt es, dass ich an der Tankstelle vor meinem Apartment soeben eine „Lizard Box“ erstanden habe - jedoch ursprünglich eher ein Spaßkauf, da ich gegen Salamander grundsätzlich nichts habe. Als abendliche Zimmergenossen kann ich sie mir zumindest um Längen besser vorstellen als eine Kakerlake, tot oder lebendig.

Ich habe bis heute nicht verstanden, warum Singapurer Kakerlaken – oh, es beginnt ein Singapurer Regensturm! – immer auf mich zulaufen, wenn sie die Erschütterung meines Schrittes spüren. Warum rennt das Vieh – oh, er hört schon wieder auf – auf die Gefahrenquelle zu? Wie sollen die auf diese Weise eines Tages den Planeten übernehmen, wie immer wieder aus klugen Kreisen behauptet wird?

Zwischen Schuhen, Slippern, Sandalen und High Heels, die sich morgens und abends vor der Wohnungstür türmen und alles andere als einen einladenden Eindruck vermitteln, lässt es sich - ich gestehe es ein - als Schabe in der Tat gut leben. Fußschweißdüfte in der Luft, abgestorbene, zerriebene Hautzellen auf der Einlage, ein wenig Nagelpilz oder biologisch abbaubarer Lack als Nachtisch, ich kann verstehen, warum bei meiner abendlichen Heimkehr um Mitternacht kleine vielbeinige Betriebsausflüge rund um die Eingangstür stattfinden. Und als warteten sie ungeduldig auf den Nikolaus, stürmt die hungrige Meute dann gerne auf mich zu - wie vorsichtig ich auch immer meine Schritte setze. Lecker. Sie können ja wirklich nichts dafür, aber Kakerlaken sind tatsächlich richtig ekelhafte Tiere.
Für mich besonders, seitdem ich einmal in Südamerika, genauer im ecuadorianischen Amazonasdschungel, einen Koch eine Kakerlake habe totschlagen sehen, aus der sich noch im Todeskampf ein wurmartiger Parasit langsam Richtung Kantinenausgang schlängen wollte. Klatsch. Der mächtige Stiefel des Koches machte zwar auch dem Mitbewohner den Garaus, doch dieses Bild prägt sich ein. Der Superlativ des Widerlichen, ein Kakerlakenparasit. So gar keinen Respekt mehr vor sich selbst?
Angenommen, ich bin ein Parasit, nur mal so theoretisch und ich stehe vor der Wahl, wo ich mich ... nein, ich schweife ab ... was hier offiziell festgehalten werden soll, ist das allabendliche Dilemma vor der eigenen Haustür von heranstürmenden Kakerlaken – freudigen Haustieren ähnlich – begrüßt zu werden. Ein Gesichtsausdruck ist bei Insekten schwer auszumachen, aber mir ist als hörte ich winzig kleine Mägen knurren, ein hungriger Haufen in stummer Schwärmerei über die Produktpalette meiner Zehzwischenräume.

Aber ganz eigentlich wollte ich nur Socken ausziehen und ankommen. Trippelt da was?

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Montag, 12. März 2007

Staatsdienlicher Gottesdienst.

Als ausländischer Gasthörer in Suntec City


Prince ist in Singapore. Er schreit, kreischt, knurrt, grummelt und stöhnt wie es seine Zuhörer mögen und nicht anders von ihm kennen. Immer wieder ertönt Szenenapplaus für ihn und die Band. „Amen“ und „Hallelujah“ tönen durch den weitläufigen Saal.

Doch Prince hat keine Gitarre umgeschnallt, sondern ein Mikrofon, und heißt mit Vornamen Joseph. Pastor Joseph. Herzlich willkommen zunm Gottesdienst in der New Creation Church in Singapore.

Ich bin mit meinem Freund M., einem Singapurer, verabredet, der mir versprochen hat, mich in einen Gottesdienst in einer der drei großen Kirchen Singapurs mitzunehmen. „Groß“ heißt im Singapurer Kontext rund 10.000 Gemeindemitglieder, so viel zumindest hat die Faith Community Baptist Church oder kurz FCBC, wie in Singapur überhaupt gerne Abkürzungen benutzt werden. Mehr zu bieten haben noch die City Harvest Church mit 16.000 und die New Creation Church mit rund 15.000 Mitgliedern. In letzterer sind wir am heutigen Sonntag zu Gast. Dazu fahre ich in das Großkaufhaus „Suntec City“, in dessen benachbarten Messehallen auch schon mal der Internationale Währungsfond tagt.

Der dritte Stock des Einkaufszentrums, auf den ich über eine für deutsche Verhältnisse unüblich schnelle Rolltreppe gelange, ist proppenvoll. Warteschlangen für alle Arten von Gläubigen, Warteschlangen für alteingesessene Mitglieder, für Neuankömmlinge oder Schwangere. Ich stelle mich mit M. an der Gästeschlange an und warte auf den Einlass.

Das Ambiente ist bizarr. Der Eingang zur Kirche sieht aus wie der Einlass zu einem Erlebnispark, „Rock“ steht in zackiger Schrift über einem Torbogen aus gefälschten Granitblöcken geschrieben. Ich erwarte hier Free-Climbing, neueste Kino-Action oder eine Spielhölle, für die Gemeinde ist das der Eingang zum Himmel auf Erden.
Wir nehmen schließlich Platz in einem der vielen hundert, weichen Kinosessel des Saales, während sich die Gemeindeband auf der in weiche Lilatöne gehüllten Bühne warmsingt.

Beziehungsweise sich in Stimmung hält, ist das doch schon der zweite Gottesdienst an diesem Sonntag, den sie nach dem Frühgebet um 9.30 nun um halb zwölf mit rund 1000 Gläubigen abhalten wollen.
Der Saal füllt sich rasch, die Show beginnt mit drei perfekt inszenierten und choreographierten Songs. Die beiden überlebensgroßen LCD-Bildschirme über der Bühne setzen die Sängerinnen professionell ausgeleuchtet ins rechte Licht.

Pastor Darren spricht – quasi als Vorgruppe – das erste Gebet und stimmt die Gemeinde auf den Hauptakt beziehungsweise die Predigt ein. Die eigentliche Show beginnt, als Prince mit dem Schlusstakt des letzten Liedes langsam aus dem Backstagebereich nach vorne schreitet.
Der Enddreißiger indisch-chinesischer Abstammung sieht nicht wie ein Pastor aus. Joseph Prince könnte die Finalrunde von „Deutschland sucht den Superstar“ gewonnen haben, Typ: Schmusesong, Schwiegermutters Darling. Gegelte Haare, braunes Jackett, Jeans, blaues Hemd, weiße Turnschuhe.
Seine Assistentin Phyllis verliest eine anonym per E-Mail gesendete Familiengeschichte, in der Jesus nicht nur alle Bankschulden getilgt, sondern auch der Tochter zu besseren Noten und der Ehefrau zum Nichtraucherdasein verholfen hat, eine eineinhalbseitige Geschichte, die beinahe zu perfekt komponiert ist, um wahr zu sein.

Prince, das Ebenbild eines „American Idol“-Gewinners, hat seine Stimme vergleichbar gut im Griff. Er flüstert und schreit, treibt seine Gemeinde an, fordert sie auf, ihm ein fröhliches „Amen“ entgegenzuschleudern. Viele Mitglieder kichern, wenn Prince auf der Bühne mit verstellter Stimme eine Amerikanerin imitiert oder einen britischen Snob. Er ist ein guter Entertainer, theatralisch, ohne dabei den Kontakt zu seiner Gemeinde zu verlieren, er erzählt Familiengeschichten und persönliche Erlebnisse. „Egal wie sehr ich meine Tochter lieben werde, Gottes Liebe wird immer größer sein“, schreit er in die Menge, die ihm begeistert ein Amen entgegenwirft.

Die Bibelstelle seiner heutigen Predigt lautet Johannes Kapitel 10, Vers 1-14, „Life and life more abundantly“. „Vertraue Dich dem Herrn an, sei ein Schaf, folge dem Herrn und Dein Schmerz, Deine Sorgen werden vergehen.“ Prince zieht alle Register seines Könnens, er imitiert einen Atheisten genauso wie Einstein als vermeintlich besten Wissenschaftsrepräsentanten. Er imitiert sogar Jesus, die Staubwolke, die die Ägypter daran hinderte, die Israeliten vor dem Roten Meer doch noch abfangen zu können.
Er dreht sich spielerisch mit dem Rücken zum Publikum um und grinst „I feel like a superhero“, das Publikum lacht, ohne ihm diesen – in meinen Augen beinahe blasphemischen – Akt übel zu nehmen. Überhaupt fehlt in diesen zweieinhalb Stunden jegliche Spur einer in sich gekehrten Gottesfürchtigkeit katholischer Kirchen in Deutschland. Die Band rockt, in Maßen, fast ausschließlich Dur-Akkorde, süßlich verpackt in leicht verdauliche und rührend inbrünstig vorgetragene und mitgesungene Arrangements.

Was mich bewegt, ist die Hingabe vieler junger Singapurer, die auf Zuruf von Pastor Prince die Arme in die Höhe strecken und „Hallelujah“ rufen, keine Hysterie, keine Ekstase, aber aufrichtiges, lautes Anbeten Gottes.
Joseph Prince betont in seiner Predigt immer wieder „I am not a religious leader, I am a spirtiual leader. Do I look like a religious leader?“, fragt er neckisch und macht sich über fanatische Glaubensbrüder lustig. Das Publikum lacht zur Antwort.
„Live your life as a sheep“ ist seine Botschaft und er meint das ernst. In Singapur muss er das nicht zwei Mal sagen. Fünf neue Schafe hat er an diesem Sonntag um kurz vor Zwei hinzugewonnen, die er am Ende des Gottesdienstes persönlich und werbewirksam mit Handschlag von der Bühne herab begrüsst.

Ich verlasse mit M. den Saal und finde mich draußen wieder wie nach einem langen Kinobesuch. Die Realität Singapurs hat mich schnell eingeholt - der Wachdienst des Kaufhauses hindert mich daran, das Eingangsschild der Kirche zu fotografieren ...

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